6. Eines Meisters Garn

3479 1 0

Ich hab sie erschaffen. Also sind sie ein Teil von mir.

Meine Konzentration wanderte zu den Ketten. Fundamental waren sie eine Produktion meiner Fantasie, manifestiert durch blaue Seelenflammen.

Die Ketten begannen zu leuchten. Langsam intensiver werdend hellten sie den Kerker aus. Bis von einem Moment zum anderen aus den Ketten wieder blaue Flammen wurden. Ich sank seicht zu Boden, so wie die Flammen wieder zu mir zurückkehrten.

Ich genoss den Moment. Seit einer Ewigkeit war da kein Schmerz mehr, kein Kreischen, kein Zerren an meinem Verstand. Für eine Sekunde war mein Kopf wie leer. Ein wahrlich faszinierendes Gefühl.

Man sollte mein, dass man sich einen besseren Kerker herbeizaubert, wenn man sich schon einsperrt. Aber den emotionalen Spielraum muss man erstmal haben.

An meinen Füßen klebte eine schwarze Suppe. Wie ich meine Füße hob, zogen sie dicke Fäden.

Das ist wirklich wie Teer. Dachte ich mir überrascht. Ja... Klar.

Ich atmetete tief ein. Ein kaltes Prickeln füllte meine Lunge. Die Finger zu einem Kreis geformt, pustete ich durch meine rechte Hand auf den Boden. Der Teer gefror von meinem Atem. Im nächsten Moment zersprang er und verschwand. Der Boden erschien wieder bodenlos. Wie die Decke war er zu Nichts geworden. Nur die Wände und Tür des Kerkers gaben noch Orientierung. Ich trat an die Kerkertür heran. Legte eine Hand auf die raue Kerkerwand. Vom Detailsgrad machte ich keinen Unterschied zur Realität aus. Rau, feucht, kalt.

Mich beschleicht das Gefühl, dass ich diesen Trick nicht noch einmal einsetzen sollte.

Einen Schritt weiter wusch eine Flut an Erinnerungen über mich. Wie tausende kleine Ameisen begann sie erst von den Händen und Füßen an zu kribbeln. Dann über die Arme und Beine wanderte sie wie eine Welle den Nacken rauf über den Hinterkopf und endete sogleich wieder.

Es sieht wirklich nicht so gut aus.

Seit dem Terroranschlag am Ende der Operation Sublimierung hatte Hammthal, die Kontrolle über meinen Körper übernommen. Nachdem Frau Salberg mich mit seiner Hilfe stabilisiert hatte, waren immer noch unzählige innere und insbesondere seelische Schäden zurückgeblieben. Auch wenn Hammthal als Seelendämon an der Spitze der uns bekannten Lebewesen stand, konnte er in dem Punkt nur bedingt helfen.

Für Hammthal standen die letzten Monate drei Punkte im Vordergrund. Uns am Leben halten, nicht als Hammthal auffallen und die möglichen Konsequenzen für unser Ziel limitieren. Doch gerade Ersteres und Letzteres stellte sich als schwer heraus. Was mit mir gerade genau nicht stimmte, verstand ich noch nicht. Aber Hammthal hatte wohl viel Energie aufgewendet, um den aktuellen Zustand irgendwie zu stabilisieren. So steif wie sich mein Körper nur noch bewegte, waren Teile gefroreren.

Erste Amtshandlung eines blauen Seelendämons? - Erstmal gefrieren, was er nicht versteht.

Gleichsam bedenklich war die Entwicklung der Operation Palingenese. Es scheint wirklich so, dass ein neuer Seelendämon das Licht der Welt erblickt hat. Und bei dem Versuch sich ihm zu nähern, wurden unsere Korrektoren getötet. Auch wenn Hammthal sie ausdrücklich davor gewarnt hatte. Es ist nahezu ausgeschlossen, dass ein frisch geborerner Seelendämon seine Kräfte beherrschen konnte.

Wenn eine Nation die Kontrolle über diesen Seelendämon erlangen würde, dann wäre es dass mit dem Kräftegleichgewicht zwischen Hardon, Sarkorska und Raktaran. Dann beginnt der zweite Dämonenkrieg. Das darf ich nicht zu lassen.

Dies brachte uns zum aktuellen Verfahren. Noch hatte ich nicht die Kontrolle übernommen. Ich beobachtete alles aus zweiter Reihe.

Der Hohe Rat tagte im Königssaal. Boden und Wände schienen wie aus einem Stück weißen Marmor gegossen. Gegen Ende des Raums standen drei massive Kirschholztische im Halbkreis angeordnet. An diesen Tischen saßen jeweils drei Ratsmitglieder. Auf einem erhöhten Podest hinter ihnen leitete der Vorsitzende die Sitzung oder in diesem Fall die Anhörung. Modernste Kristallkronleuchter leuchteten den Saal gleichmäßig in weichem Licht aus.

Die Etablierten zu meiner Linken waren Forscher, die Jahrzehnte an Erfahrung gesammelt hatten. Ihnen saß Liliana Schutz vor. Eine durchaus dickköpfige Frau in den Mittvierzigern, die nach dem Motto "Geht nicht, gibts nicht" forscht. Neben ihr saßen Timm Wexner und Benedict Lichtwark, beide Ehrenprofessoren an der Saphirakademie und ehemalige Forscher des Himmelsinstituts. Auch gingen sie beide stramm auf die siebzig zu. Sie trugen formelle Kleidung und die Professorenkordel in Saphirblau über der linken Schulter.

Die Loyalisten in der Mitte waren Anhänger des ehemaligen Königs, auch wenn dieser bald vor fünfzig Jahren verschieden war. Sie übten sich traditionell in Neutralität. Sie forderten nicht die Rückkehr zur Form eines Königreiches. Vielmehr vertraten sie eine eher konservative Sichtweise und wurden als Forscher an der königlichen Akademie ausgebildet. Wilhelm Köstner, Stefan Steinhäusser und Dennis Kornfeld waren in der heutigen Anhörung zugegen. Wortführer war Kornfeld. Mit sechzig Jahren gehörte sie auch zum älteren Semester. Alle drei zierte die Professorenkordel in Waldgrün mit eingewebten goldenen Fäden.

Zu meiner Rechten saßen die Geborenen. Sie waren in Sarkorska geborene und ausgebildete Forscher, sie vertraten in gewissem Sinne die jüngere Generation. Rodney Garrison war bereits seit einigen Jahren der Wortführer der Geborenen, auch wenn er erst jüngst ins Rampenlicht getreten war. Tatsächlich war er auch für einige Monate im Himmelsinstitut tätig, jedoch mit mehr Interesse an meiner Person als an der Forschung. Begleitet wurde er heute von Lea Rosenfeld und Johann Steinmahl. Ihres jungen Alters zum Trotz trugen sie bereits eine Professorenkordel in Steingrau. Diese stand für die Akademie der Sturmspitzen, der im Südwesten von Sarkorska liegenden Gebirgskette.

Die Etablierten standen unter normalen Umständen geschlossen hinter mir, wussten sie doch um Bedeutung von Hammthal. Doch aus mir noch unerfindlichen Gründen taten sich die Loyalisten mit ihrer Neutralität und sogar zwei der Etablierten mit ihrer Unterstützung für mich schwer. Würde jetzt abgestimmt werden, wäre die Mehrheit für meine Hinrichtung.

Können sie Hammthal von mir trennen? Das wäre nicht gut für meine Situation, aber das wäre phänomenal für Leon und Freddy. Dann könnte ich sie endlich heilen. Hat eine der Akademien ein Geheimauftrag bekommen? Oder hatte eine andere Nation einen Durchbruch?

Junge, konzentrier dich. Konterte mich Hammthal.

In einem Quadrat um mich standen vier Korrektoren. Alle in Reichweite, um mir im Bruchteil einer Sekunde den Kopf abzuschlagen. Magnus Leupold, der Anführer des Corrigendums, wartete mit etwas Abstand neben dem Hohen Rat. Auch wenn er als Waise von klein auf indoktriniert war, lag ihm persönlich nichts am Hohen Rat. Der Schutz der Nation hatte seine volle Aufmerksamkeit. Diese politischen Spiele waren ein unvermeidbares Übel, in das er als Anführer des Corrigendums hineingezogen wurde.

Rodney Garrison hatte sich in Rage geredet und laberte nur noch Unsinn.

Hammthal stieß unseren Gehstock mit Kraft auf den Marmorboden.

*KLACK**Klack**klack*

"Die nächsten fünf Minuten werden sehr wichtig für Sie werden", unterbrach er Rodney Garrison. Dabei modellierte Hammthal erstmals meine Stimme. Auch wenn ganz klar mein Körper sprach, hörte ich mich nicht mehr wie ich an. Es entsprach mehr der inneren Stimme, die ich von Hammthal gewöhnt war. "Ihre Missgunst, Herr Garrison, Valentin Hamm gegenüber sind den Anwesenden und mir gleichermaßen wohlbekannt. Auch wenn sie noch so elaborierte Fäden spannen, den Hohen Rat und das Parlament in Ihrer Tasche wähnen. Unterschätzen Sie nicht, wer ich bin."

"TÖTET IHN", schrie Rodney Garrison. "Hammthal will den Hohen Rat auslöschen!"

Das Surren von vier Klingen zerschnitt die Luft. Hammthal hob scheinbar in Zeitlupe unseren Gehstock leicht an.

*Klack*

Die Korrektoren verlangsamten ihre Bewegung nahezu zum Stillstand. Nur ein Daumenbreit trennte ihre flammenden Klingen von meinem Hals. Nur drangen sie nicht durch die Seelenflammen von Hammthal hindurch. Die Flammen weigerten sich zu mischen und rangen um Vorherrschaft im Raum. Splittern hallte aus allen Richtungen durch den Saal, gefolgt vom Scheppern von Armreifen, mit denen ich bis eben gefesselt war. Jeder der Anwesenden hatte zum Selbstschutz vor blauen Seelenflammen einen Absorptionsring getragen, welche simultan zu Bruch gegangen waren. Die Armreifen sollten ähnlich meines Koffers ebenfalls meine Flammen unterbinden. Doch waren sie für Hammthal etwas unterdimensioniert, wie es aussah.

"Ich bin beeindruckt. Schwer beeindruckt sogar mein lieber Magnus", merkte Hammthal anerkennend an. Ich spürte, wie Hammthal von Stolz erfüllt wurde.

Verlangt es dir nach einem Kontrahenten? Jemand der dir Parolie bieten kann? Fragte ich.

Ja und nein. Es ist einfach schön zu sehen, dass Sarkorska noch andere fähige Flammenbeherrscher hat.

Magnus bewegte sich mit schweren Schritten zwischen mich und den Hohen Rat. Mitternachtsblaue Flammen hüllten seine Augäpfel ein. Er ballte seine Fäuste mit einer solchen Gewalt, dass sich seine Finger ins Fleisch gruben. Blutstropfen lösten sich von ihnen und froren noch in der Luft ein, bevor sie den Marmor überhaupt erreichten.

"Du brauchst nicht zu sprechen, Magnus." Hammthal schaute an ihm vorbei zum geschätzten Vorsitzenden. "Ich werde euch und dem Hohen Rat kein Haar krümmen."

Blut quoll Magnus langsam aus der Nase und den Ohren. Die Atmung fiel ihm sichtlich schwer, während sich seine Lippen und Nasenspitze langsam blau färbten.

*Klack*

- Seelendomäne -

- Ausdehnung -

Magnus Augen rollten für einen Moment nach hinten und mit ihnen erloschen seine Flammen. Für mehrere Sekunden mit Gewalt den Seelenflammen eines Seelendämons zu widerstehen, ist eine beachtliche Leistung. Hammthals Seelenflammen füllten den gesamten Saal aus. Der vormals weiße Saal schimmerte nunmehr in einem Kobaltblau, welches von Sekunde zu Sekunde dunkler zu werden schien. Unser aller Atem knisterte beim Ausatmen, so tief waren die Umgebungstemparaturen bereits gefallen.

- Seelenfäden -

Der Raum nahm langsam wieder einen normaleren Farbton an, als sich die Flammen zu Fäden konzentrierten. Sie wirkten geradezu filigran und doch waren sie eine stabile Brücke in den Körper und Verstand eines anderen Lebewesens. Momente später waren wir mit jedem Anwesenden verbunden. Die Korrektoren zogen ihre Schwerter zurück. Geordnet nahmen sie, Magnus inklusive, hinter mir Stellung auf. Ihre Körper waren unter unserer Kontrolle.

Seelenfäden waren eine von der Familie Hamm entwickelte Technik, welche über Generationen hinweg weitergegeben wurde. Entsprechend beherrschte sowohl Hammthal ehemals Thal Hamm und ich, ehemals Valentin Hamm, diese Technik. Auch wenn ich es aufgrund schlechter Erinnerungen vorzog, diese Technik nicht einzusetzen, bot sie eine unheimliche Flexibilität.

Langsam aber bestimmt führte Hammthal fort. "Wie Sie als Mitglieder des Hohen Rates wissen, beherbergt dieser Körper die Flammen zweier Seelen. Die von Valentin Hamm, wiedergeboren als Korrektor Richard Thal im ewigen Dienst für Sarkorska und mir," die Korrektoren hinter mir fielen auf ein Knie, schlugen sich die Faust aufs Herz und senkten ihren Kopf. "Seelendämon Hammthal, dem Vorfahren von Valentin Hamm und einer der Gründerväter von Sarkorska."

Selbst wenn sie wollten, erlaubte Hammthal kein Widerwort.

"Sie wissen um meine Existenz. Um die Rolle, die Seelendämonen erfüllen. Welchen unermesslichen Vorteil es für Sarkorska bedeutet, über den Seelendämon Sarkor und mich, Hammthal, zu verfügen, während andere Nationen gerade einmal einen Seelendämon haben."

Kurz brach Hammthal in fassungsloses Lachen der Erkenntnis aus. "Hahaha, oh bei der Mutter des Nichts. Einige von Ihnen stellen tatsächlich Lacrimosa infrage?!", brüllte er. Der Gehstock hämmerte in den Marmor, der unter dem Druck knackte. Ein Riss zog sich entlang der zwei Meter langen Marmorplatte. "Die zehn Minuten, die den ersten Dämonenkrieg besiegelten. Die mehr Soldaten den Tod kosteten, als die fünf Jahre davor, soll eine Übertreibung sein?!"

Er fokussierte Rodney Garrison. Wenn ich die Gedanken soweit richtig gelesen hatte, ging diese fabrizierte Lüge zum Großteil auf sein Konto. Aus dem Wust an Gedanken, Angst und Panik, die sich durch die Fäden ihren Weg bahnten, hatte ich das so weit entnehmen können. Eigentlich sind Seelenfäden auf die körperliche Kontrolle anderer Lebewesen abgestimmt, aber als Seelendämon konnte Hammthal den Einsatzspielraum anscheinend erweitern. Jetzt war es eher die Herausforderung, aus den wirren Gedanken von über einem dutzend Menschen etwas Zusammenhängendes auszumachen. Und dabei nicht die Kontrolle wieder zu verlieren.

"Ihr solltet euch eigentlich glücklich schätzen, dass ihr das nicht mit ansehen musstet. - Dann lasst mich eure Augen öffnen."

< ... >
< ... >
< ... >
< Befragungsraum >

Wilhelm Stark: "..."

Magnus Leupold: "..."

Wilhelm Stark: "Dafür, dass er "deine Stärke" anerkannt hat, bist du sehr schnell eingeknickt."

Magnus Leupold: "Mach mir das erstmal nach. Und die Anführungszeichen kannst du dir sparen."

Wilhelm Stark: "Schau, wer sich auf einmal wehren kann. - Ah, jetzt geh nicht in die Luft. Das stört die Aufzeichnung. Die Warnlampen gehen schon an."

Magnus Leupold: "Hur...ohn"

Wilhelm Stark: "Häh?"

Magnus Leupold: "..."

Wilhelm Stark: "Aber noch was anderes. Haben wir eine Akte über diesen Freddy und Leon?"

Magnus Leupold: "Freddy und Leon liefen im Jahr 365 der Seelendämonenära unter Begleitung von Valentin Hamm zu Sarkorska über. Nachnamen, Stammbaum und Hintergründe sind nicht bekannt. Nach Aussage von Valentin Hamm sind sie Waisen, welche Experimente durch das Imperium unterzogen wurden. Sie haben mit Valentin den Nachnamen Thal übernommen. Im Gegensatz zu ihm jedoch keinen neuen Vornamen annehmen wollen."

Wilhelm Stark: "Noch was?"

Magnus Leupold: "Hier steht nur noch, dass sie vom Korrektorat die Erlaubnis haben, unter der Führung des Korrektors Richard Thal zu agieren."

Wilhelm Stark: "Wenn sie so beieinander bleiben, sind sie wenigstens leichter im Auge zu behalten. Wie würdest du diese Fäden kontern?"

Magnus Leupold: "Was ist das für eine Frage?"

Wilhelm Stark: "Na, falls wir mal gegen sowas kämpfen."

Magnus Leupold: "Ja, ja, schon klar. Etablier eine Seelendomäne. Solange du da andere Seelenflammen nicht reinlässt, fertig."

Wilhelm Stark: "Das ist offensiv dann ja Scheiße."

Magnus Leupold: "Kann man so sehen."

Diese Geschichte schließt an Operation Sublimierung an. Siehe hierfür: https://www.worldanvil.com/community/manuscripts/read/2223665389-midnightplay-operation3A-sublimierung
Please Login in order to comment!