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Leseproben (unlektoriert)

In the world of Iranthi

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Leseproben (unlektoriert)

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Kurze Einleitung

  • Die Welt Iranthi: eine uns ähnliche Mittelalterwelt mit übernatürlichen Aspekten (Magie & Co.) Die Urbanistik ist in Iranthi sehr fortschrittlich, mit Städten und Metropolen, die unseren das Wasser reichen können.
  • Die acht Monde von Neutis: Neutis ist der Planet, auf dem der Hauptanteil der Geschichte stattfindet. Die acht Monde sind Emotionen (Abscheu, Angst, Freude, Neugierde, Traurigkeit, Überraschung, Liebe/Vertrauen und Wut) zugeordnet, und haben einen großen Einfluss auf das Leben von Neutis. Jeder der Monde hat einen eigenen Namen.
  • Das Reich der Stille: Das Reich der Stille ist eine Art Fugenwelt, welche zwischen allen anderen Welten existiert (wie z. B. zwischen unserer Welt und Iranthi). Viele übernatürliche Aspekte bedienen sich der Mächte dieser Fugenwelt; so auch der Blütenheiler. Ein Besucher würde diese Welt wohl wie folgt beschreiben: „Eine Landschaft getaucht in einer rötlich und blauen Dämmerung mit einem Sternenhimmel, der so voller Sterne hängt, dass man meinen könnte, man befände sich in einem galaktischen Zentrum. Doch nicht nur das Firmament mutet traumhaft an: Auch die Landschaft mit ihrer wundersamen Flora, bestehend aus leuchtenden Blüten, riesigen alleinstehenden Bäumen, fernen Gebirgen und sanften Hügeln, bedeckt mit Gras und bunten Stauden. Immer wieder trifft man auf kleine wie große Gärten, die fantastische Pflanzen und mystischen Wesen bewohnen. Ein Ort, an dem man gerne oder gar sein ganzes Leben verweilen möchte. Doch dieser Ort dringt in den Geist ein. Zunächst nur Flüsterstimmen, die sich aber schon nach kurzer Zeit in eine Kakophonie steigern und so stark an der Psyche zehren, dass man schnell dem Wahnsinn anheimfallen wird.“
  • Blütenheiler: Sehr seltene Heiler, die aus dem Reich der Stille ihre übernatürlichen Fähigkeiten beziehen. Jeder Blütenheiler ist einem der acht Monde zugewiesen. Im Reich der Stille nennt jeder Blütenheiler einen Garten/Hain sein Eigen. In diesen Gärten führt sein Blütenheilerkind (s. u.) sein Dasein und schickt – allegorisch – Blüten (die „Energiequelle“) zu seinem Blütenheiler. Um diese Blütenblätter anzufordern, muss der Blütenheiler ein ihm ganz persönliches Kriterium bedienen – so ein Kriterium kann alles sein; vom „Malen von Bildern“, über „Verzehr von Birnen“, bis hin zu „Schmerzen erleiden“ – auch Blütenheileraspekt genannt. Diese Heiler können nicht nur körperliche, sondern auch geistige Krankheiten kurieren. Neben ihren Heilerfähigkeiten besitzen sie auch noch weitere Fähigkeiten, die fast alles Mögliche sein können, doch sehr nah an der Leitemotion ihres Mondes thematisiert sind.
  • Blüten(heiler)kind: Jeder Blütenheiler verfügt über eines dieser Kinder. Sie können sich sowohl im Reich der Stille, als auch in Iranthi aufhalten, und haben selbst auch übernatürliche Fähigkeiten. Ihr Erscheinungsbild ist meist geisterhaft; manche Blütenheilerkinder können ihre Erscheinung ändern, sodass sie aussehen, wie „normale“ Kinder. Diese Kinder sind ein wichtiges Medium für den Blütenheiler zwischen ihm und dem Reich der Stille.
  • Meryana Belamour: eine Protagonistin und Blütenheilerin des Satirac (Mond der Liebe). Im Jahre 1998 kam es zu einer Verschmelzung ihres Bewusstseins mit der eines Jungen (Dirk) aus der irdischen Welt.
  • Auriana Belamour: Meryanas Blütenheilerkind. Ca. 10 Jahre alt.
  • Die unten aufgeführte Kapitel sind chronologisch sortiert, und spielen im Herbst des Jahres 1999. Die Zwischenkapitel sind nur im Buch vorhanden.
  • Siehe auch: Blütenheilerartikel
  • Für alles Weitere: www.iranthi.com

Charakterartikel über Meryana (Link)

Charakterartikel über Auriana (Link)

 

Kapitel – Von Blüten und Bienen

„Schau mal! Mama! Da! Schau mal! Die Summisummsen!“ Auriana hüpfte aufgeregt hin und her, und ließ das Geschirr auf dem Tisch klappern. Es war ein drolliger Anblick, aber auch deswegen, weil sie es zum ersten Mal geschafft hatte, sich vollständig zu manifestieren. Doch weder sie noch ihre Mutter hatten das zunächst bemerkt.
„Bitte was? Die … hä?“
„Ja, und deine Blütenblätter! Es sind jetzt ganze Blüten dabei! Deswegen kommen sie ja! Und dann werden wir im Garten einen Stock haben, und dann mit dem Honig können wir auch tolle Sachen machen, und ich möchte eine große Summisumm dann als Begleiter, bitte Mama! Ja?“
Meryana saß wie ein Fragezeichen am Tisch und wusste nicht so recht, was Auriana meinte, wollte aber ihre Tochter erst einmal beruhigen.
„Äh, ja, natürlich. Wenn es dir Freude bereitet, sicherlich.“ Meryana strahlte sie an. Das war keine gespielte Freude; sie mochte es von ganzem Herzen, wenn sich Auriana über etwas freute. Es war die kindliche Emotion der Freude. Manchmal konnte sie aber auch ein richtiger Brausekopf, im fröhlichen Sinne, sein.
Meryana stand auf und schaute sich die Blütenblätter, oder besser gesagt, die Blüten an, welche aus ihren Haaren auf den Tisch gefallen waren. Und tatsächlich, es waren nicht nur vereinzelte Blätter zu sehen, sondern teils auch ganze Blüten; in allen möglichen Größen. Was das nun genau bedeuten sollte, war ihr nicht bewusst. Aber es war wohl, ihrer Meinung nach, ein Fortschritt – ihre Blütenheilerfähigkeiten hatten sich vermutlich verbessert, und, mit ein wenig Glück, kämen noch ein paar Neue dazu.
Jetzt fiel es ihr selbst auf, dass Auriana keine Geistergestalt mehr angenommen hatte, sondern genauso so körperlich dastand wie ein ganz normales Menschenkind.
„Auriana! Du … du bist kein Geist mehr!“
„Was? Ich? Wie ist das …?“ Auriana griff nach einem Buttermesser, das auf dem Tisch lag, und quietschte auf, als sie es tatsächlich fassen konnte.
„Mama! Mama! Schau, das Messer!“ Sie rannte und hüpfte im Zimmer, wie ein aufgeregter kleiner Landvogel, der eine Riesenfrucht entdeckt hatte, auf und ab. Meryana freute sich, konnte ihre Tochter jetzt diese Welt hier so erleben, wie jeder andere auch. Ein Schatten legte sich jedoch auf diese Gedankengänge: „Was ist, wenn sie verletzt wird?“
„Auriana, sei bitte vorsichtig! Leg das Messer zurück!“
„Wieso? Aber … ok.“ Auriana legte das Messer wieder beiseite, fing an zu kichern, und zeigte auf ihre Mutter.
Meryana war verwundert, normalerweise hörte sie nie so gut; besonders nicht so schnell.
„Was ist denn so lustig? Ist was mit mir?“, Meryana schaute an sich hinab. Da war nichts Auffälliges.
„Auf deinem Kopf!“
Jetzt spürte sie es auch. Etwas Federleichtes hatte sich auf ihrem Kopf niedergelassen. Sie schluckte und wurde stocksteif. Sie mochte es nicht, wenn sich irgendetwas auf ihrem Kopf niederlässt, und schon gar nicht – sie fasste nach oben und kreischte auf – wenn es etwas Lebendiges war. Sie schüttelte sich und rannte ein Stück, weg von dem Ding, welches jetzt in der Luft summte und an Ort und Stelle schwebte und pendelte.
„Auriana, was ist das???“, kreischte Meryana nervös und deutete mit einem Finger auf das Flugobjekt.
„Na das ist ein Summisumm.“
„Das Ding sieht eher aus wie eine abnorm fette Hummel.“
„Nein, ist ein Summisumm.“
„Heißen die wirklich so, oder hast du dir das nur ausfantasiert?“
„Weiß nicht.“
Meryana schaute das „Summisumm“ skeptisch an.
„Haben die einen Stachel?“ Sie hatte Angst vor Insekten, die stechen, kneifen, beißen, zwicken oder sonstige Dinge tun konnten – besonders wenn sie so groß wie eine ausgewachsene und wohlernährte Hauskatze waren.
„Weiß nicht. Ich glaube nicht.“
„Und was machen wir, wenn … WIESO KOMMT DAS DING AUF MICH ZUFLOGEN?“, sie kreischte wieder auf und flüchtete vor dieser Bedrohung, so gut es ging, während sie zugleich auf der Suche nach einer Verteidigungsmöglichkeit war. Auriana gluckste, als sie ihre Mutter dabei beobachtete. Das Summisumm flog träge und schaukelte dabei leicht.
„Sie mag dich. Dein Haar riecht nach deinen Blüten. Aber was hast du mit der Salami vor? Die fressen so etwas nicht.“
„Wieso riecht mein Haar nach Blüten? Da sind keine mehr drin!“ Meryana blieb stehen und legte ihre Wurstwaffe wieder beiseite für eine kleine Verschnaufpause, und weil sie nicht in die Annalen der Geschichte eingehen wollte, als jemand, der sich mit einer Salami gegen eine fette Hummel verteidigte und dabei drauf ging.
Sie wollte auch nicht aus der Wohnung flüchten. Wenn andere Leute sie so sähen, würde das Fragen aufwerfen, oder für Tratschstoff sorgen. Sie mochte es nicht, wenn Leute über sie tratschten.
Das Rieseninsekt kam immer näher, war aber durch seine Trägheit sehr behäbig unterwegs. Die Verängstigte nahm wieder die Flucht auf, stolperte aber über eine auf dem Boden kullernde Salami. Das Insekt ergriff die Gelegenheit, schoss wie ein Pfeil nach vorne und krallte sich in ihren Haaren fest. Es gab ein kurzes Aufquieken.
Mit weinerlicher Stimme bat Meryana ihre Tochter, den neuen Kopfschmuck zu entfernen, während sie wie ein Stein auf dem Boden verharrte. Ein bebender Stein.
„Es hat ja doch einen Stachel, Mama! Aber ich glaube nicht, dass es dir was tun wird. Du bist ja so was wie die Futterquelle. Futterquellen sollte man kein Aua machen. Jedenfalls nicht als Nichtfleischfresser.“
„Mach es weg!!! Und, ja, toll, sehr beruhigend!“
Meryana riskierte einen Blick zur Seite und sah dann den fingerlangen Stachel, der direkt neben ihrer Wange baumelte und zuckte.
„AURIANA!!!!!!!“
„Ist ja gut. Rühr dich nicht! Sie könnte sich sonst bedroht fühlen. Ich schicke sie in das Reich der Stille zurück, das wird aber ein paar Sekunden dauern. Boah! Der Stachel ist aber spitz!“
„Iiiiek!!!“
„Ach, hast du zufällig Schokolade da?“
Meryana quiekte erneut auf: „Ja, habe ich! Willst du sie damit weglocken?“
„Nein. Aber kannst du dich noch an gestern erinnern, als wir im Süßigkeitenladen waren, den mit dieser großen Schokoladentorte, die überall mit Herzchen verziert war, und ein Riesenzuckerherz oben drauf steckte, und du mir versprochen hattest …“
„Auriana!!! Das Vieh!!! Mach das Vieh weg!!!“
Auriana zuckte mit den Schultern, „Ich wollte dich nur ablenken“, und näherte sich ihrer Mutter.
„Denk daran, nicht bewegen, Mama!“
„Iiiiek!“
„Na komm her, mein Kleiner!“ Auriana nahm die Riesenhummel vom Kopf ihrer Mutter und hielt sie wie ein Baby in den Armen. „Sie ist sooooo niedlich!“
Meryana atmete tief durch, blieb aber noch eine Weile auf dem Teppich liegen.
„Mama, du hast einfach zu viel Angst. Vor allem Möglichen hast du Angst. Du musst dich mal deinen Ängsten stellen!“ Sie hielt ihr das Insekt hin, welches mit seinem Stachel hin und her wippte, als wolle es die Blütenheilerin begrüßen.
„…“
„Nein! Nicht jetzt so gucken! Das mag ich nicht. Mama! … ok ok, ich bringe die Summisumm weg.“ Auriana verschwand auf der Stelle, und mit ihr auch das Insekt. Ein paar Blütenblätter rieselten zu Boden, dort wo Auriana gestanden hatte. Meryana richtete sich erst einmal wieder auf und griff nach einem Schokoriegel – überlegte kurz, und schnappte sich dann noch einen zweiten, um es sich anschließend auf dem Sofa gemütlich zu machen. Ihre Blicke wanderten immer noch im Zimmer hin und her, und sie prüfte auch, mehr als einmal, ob ihre Haare „unbesetzt“ waren. Nach wenigen Minuten war Auriana wieder da und ihr Puls hatte sich in der Zwischenzeit wieder normalisiert.
„Ich habe sie in unserem Garten freigelassen. Er sieht anders aus. Größer und alles ist ganz schön gewachsen. Und das so schnell. Das ist so toll! Mama! Da sind auch neue Pflanzen! Und auch die Summisumms. Manche davon noch größer als die von eben. Und die Grunzkäfer sind auch total lustig! Vor ein paar Stunden war es dort noch nicht so, wie es jetzt ist. Es wäre schön, wenn du doch nur auch da sein könntest.“
Meryana wollte nicht nachfragen, was es mit diesen Käfern auf sich hatte; ihr genügte die Vorstellung von Riesenhummeln.
„Solange da nicht bald hunderte dieser … Summisumms rumfliegen und mich attackieren wollen, gerne. Aber ich bin kein Bewohner dieses Reiches. Wer weiß, wann ich es mal wieder sehen werde. Setz dich doch, bitte!“
„Aber sie greifen dich doch nicht an. Sie wollen nur an dir nuckeln. Aber ok!“ Auriana ließ sich neben ihrer Mutter fallen. Beide blieben eine Zeit lang sitzen, bis sich Meryana aufraffte.
„Nuckeln? … Ach, egal! Sag mal, kann es sein, dass du auch etwas gewachsen bist?“
„Ja, meinst du? Ich glaube auch.“
„Komm mal her!“
Auriana hüpfte vom Sofa und umklammerte ihre Mutter. Sie hatten sich noch nie berührt. Sie konnten sich nie berühren.
Meryana schaute aus dem Fenster, und beobachtete wie der Herbst Einzug hielt, während sie ihre Tochter festhielt. Es war ein schöner Tag, und die Sonne stand schon eine Handbreit über dem Horizont, sodass ihr Licht durch das Fenster auf Meryanas Gesicht fiel. Alles war irgendwie in diesem Augenblick anders für sie – aber schön. Dass Auriana nicht ihre leibliche Tochter war, ja der Begriff Tochter auch nicht im konventionellen Sinne zutraf, war ihr egal. Dieser kleine Wirbelwind war ihr über die ganzen Monate so sehr ans Herz gewachsen, und das wurde ihr jetzt zum ersten Mal durch diese Umarmung deutlich bewusst. So auch Auriana. Sie ließen einander nicht los, bis der letzte Sonnenstrahl Meryanas glitzerndes Gesicht berührte.
Als Meryana anfing, das Abendbrot vorzubereiten, überlegte sie, ob ihre Tochter von jetzt an auch was essen müsse, und deckte einfach zwei Gedecke. Normalerweise tat Auriana so, als würde sie neben ihr sitzen, wo sie doch tatsächlich eher schwebte.
„Hast du Hunger?“
„Ich weiß nicht.“
„Hmm … du hast noch nie was gegessen, auch nicht im Reich der Stille, richtig?“
„Genau. Irgendwie spüre ich aber etwas in meiner Bauchgegend. Ist das Hunger?“
„Das wird es wohl sein. Was möchtest du denn gerne essen?“
„Mir ist das gleich, aber das Erste, was ich essen möchte, soll von Mama kommen!“, Auriana lächelte Meryana an, welche nach dieser Aussage schluckte, waren ihre Kochkünste ihrer Meinung nach nicht umwerfend – sie war aber „interessiert und gab sich Mühe“. Sie entschied sich um: Das heutige Abendbrot, welches eher schlicht war – Brot und Belag – sollte ihrer Meinung nach nicht Aurianas Debütessen und Erstgeschmackserlebnis sein. „Weißt du was? Wir holen uns von außerhalb heute Abend was zu essen, und du darfst dir aussuchen was. Ich koche für dich morgen. Ist das so auch ok?“
Auriana sprang auf und hätte fast dabei den Tisch umgestoßen – eine Tasse musste jedoch dran glauben.
„Ja!!! … und tut mir leid, Mama! Ich räume das eben noch weg.“
Meryana schaute ihr hinterher. „Mama“ – dieses Wort bekam ein ganz anderes Gewicht, jetzt, wo Auriana so viel echter wirkte. Und nicht nur das – ihr Verhalten schien sich auch zum Positiven verändert zu haben, jedenfalls, was Meryana so in den letzten Minuten wahrgenommen hatte. Vor allem, wie sie es immer sagte, den Vernunftgründen zugänglicher. Trotzdem immer noch kindlich. Was auch gut war. Kinder werden einfach zu schnell erwachsen. Das war Meryanas Meinung. Wenn sie Auriana mit Eamon verglich, lagen da einige Jahre an Weisheit zwischen. Sie hatte Sibéal oder ihn selbst nie nach seinem Alter gefragt, aber selbst Auriana konnte ihr keine Auskunft geben, wie alt sie war. Vielleicht neun? Zehn? Eamon eher, und das gab sie nur zähneknirschend zu, war viel erwachsener als sie selbst, ja sogar abgeklärter als Sibéal. Sie schätzte ihn auf Mitte zwanzig oder gar dreißig. Und trotzdem, gewisse Themen wollte und konnte sie bei seinem kindlichen Erscheinungsbild einfach nicht auf den Tisch bringen; Themen, mit denen Sibéal gerne in ihrer Gegenwart aufwartete, aber in solchen Fällen schickte sie Eamon, sehr zu Meryanas Dank, fort.
Auriana hatte in der Zwischenzeit ihr Missgeschick in Ordnung gebracht und stand nun wie ein kleiner Soldat in Erwartungshaltung vor Meryana. „Fertig!“
„Äh, ok. Gut. Also … hast du nur diese Kleidung?“
„Wieso, gefällt sie dir nicht? Ich hatte die doch immer an.“
„Doch doch, aber es ist so … es könnte kalt sein. Vielleicht frierst du dann.“
„Ich weiß nicht, mir ist nicht kalt.“
„Ja. Nein. Ich meinte auch draußen. Die Kleidung ist ein wenig zu dünn. Und … sag mal, bist du gerade noch mal gewachsen???“
Meryana stellte sich vor Auriana und schaute direkt auf ihre Stirn.
„Ich glaube ja, ich kann mich auch wieder kleiner machen. Aber so groß konnte ich mich noch nie machen! Ich finde das toll! Ich bin ja fast so groß wie du, Mama! Ich kann mich bestimmt noch größer machen. Wobei das gar nicht so schwer ist.“
„Ja. Haha! So groß wie ich. Genau. Ist nicht schwer, ist ganz leicht.“
„Du bist aber auch winzig. Ein Meter vierundvierzig, oder? Warum wächst du nicht mehr?“
„Das ist halt so. Menschen sind nun mal unterschiedlich groß. Und nein, fünfundvierzig.“
„Der eine Zentimeter scheint dir ja ganz schön wichtig zu sein, so wie du es betont hast.“
Meryana grunzte auf, sagte aber nichts dazu.
„Hängt das damit zusammen, dass du dich selbst gerne kleinmachst, indem du die Devote spiel…“
„Auriana! … Manche Menschen sind halt klein. Und jetzt lass mich dich einkleiden!“
„Aber deine Größe macht dich total niedlich, Mama!“
„Ich … Auriana, bleib beim Thema! Wir ziehen dich jetzt an. Meine Sachen müssten dir passen.“
„Oh wie toll! Darf ich mir was aussuchen?“
„Ja klar!“
Ihre Tochter schaute durch die Garderobe, und drehte sich dann wieder um, „Hast du auch was, was nicht so süß oder drollig aussieht? Ich möchte gerne als starke Auriana auftreten.“
„Äh, wieso …“
Ohne auf eine Antwort zu warten, öffnete Auriana eine Schublade der Kleiderkommode und Meryana bekam große Augen, „Stopp stopp stopp!!! Nicht dort, da sind nur … äh … die sind nicht warm genug, diese Sachen“, schob die Schublade schnell wieder zu, und stellte sich davor. Das meiste davon hatte Sibéal ihr geschenkt. Auriana betrachtete sie amüsiert.
„Nein, nur das, was da hängt. Wieso meinst du, dass das süß… ach egal! Such dir jetzt einfach was Warmes aus, und gut ist.“
„Es muss draußen aber ganz schön kalt sein, dass du dir solche Sorgen machst.“
„Ja, ne? Haha … ich will ja nicht, dass du eine Erkältung bekommst.“
„Kann ich überhaupt so was bekommen?“
„Das weiß ich nicht, aber sicher ist sicher.“
Auriana nickte und schaute sich die einzelnen Gewänder an, die im Schrank hingen. Sie wählte letztendlich ein grün-blaues Kleid mit dickem Baumwollstoff und zog es an.
Meryana kramte ihre Sachen zusammen, warf einen Blick in ihre Geldbörse und seufzte resigniert. „Ich sollte anfangen, Geld zu nehmen für meine Heilung.“
„Mama?“
„Ja?“
„Hier ist ein Brief in einer der Taschen.“
„Hmm? Zeig mal bitte!“
Auriana überreichte ihr den mit Silberrändern verzierten Kuvert. Meryana wusste sofort, um welche Art Brief es sich handelte. In Epoya war es Brauch, Einladungsschreiben mit einem silbernen Rand zu schmücken. Zwischenzeitlich wuchs der Trend Richtung Gold, aber die Leute fanden das schlussendlich zu kitschig. Was vielleicht auch eher daran gelegen haben könnte, dass Silberfarbe wesentlich leichter herzustellen war als Goldene. Und Blattgold war auch keine günstige Alternative. Also besann man sich in solidarischer Übereinkunft auf die Farbe Silber. Viele Gastgeber, besonders jene, die etwas auf sich hielten, ornamentierten und verzierten Ecken und Kanten des Kuverts mit Emblemen, Wappen, Pflanzenzeichnungen, Tierzeichnungen, oder etwas Passendes zum Thema des Ereignisses, zu welchem geladen wurde. So auch jener, den Meryana in den Händen hielt und wie entgeistert auf das Absendedatum und auf die Silberherzchen und Lippenabdrücke schaute. Als sie zur Besinnung kam, öffnete sie den Brief hastig. Auriana wartete geduldig neben ihr.
„Aber … aber was soll ich da? Und es ist schon morgen! So ein Quatsch!“
„Was ist es denn?“
„Nichts Besonderes.“
„Komm schon! Sag es mir!“
„Dass ich immer so schnell nachgeben muss!“, grummelte Meryana, „Also gut … es ist ein geselliges Beisammensein alleinstehender Personen.“
„Aber das ist doch toll! Vielleicht findest du da ja endlich einen Freund.“
„Ich? Ne! Nein! Na! Nä! Nö! Das wird nicht funktionieren. Du weißt, wer ich ein mal war.“
„Doch. Ich denke schon. Ist doch egal, wer du mal warst. Du bist jetzt eine Frau, und du brauchst jemanden, der für dich da ist. Auf eine bestimmte Art und Weise.“
„Was heißt denn ‚bestimmte Art und Weise‘?“
„Du weißt schon. Küsschen hier, Küsschen da.“ Auriana fing an zu kichern und spitzte ihre Lippen. Meryana verdrehte die Augen.
„Ich brauche so was nicht. Ich habe ja …“, sie biss sich auf die Lippe.
„… Sibéal? Isabelle? Bastian? Hidron? Michiko? Kinaro?“, Auriana schaute sie mit nur einem Auge an.
„Ja. Aber, nein. Es ist nicht das Gleiche.“
„Sag ich ja. Deswegen brauchst du jemanden.“
„Den kann ich auch so finden. Dafür benötige ich keine Saufparty.“
„Klar. Hat ja wunderbar funktioniert in den letzten Monaten.“
Meryana öffnete den Mund und wollte was sagen, schloss ihn dann wieder. Sie konnte Aurianas Argumentation nichts entgegenhalten. Aber sie schaute ihre Tochter trotzdem mit schmalen Lippen an. Auriana zuckte mit den Schultern, und hielt sich die Hände vor ihrem Mund, während sie weiter kicherte.
Nach einer Weile ergriff Meryana wieder das Wort: „Du meine Güte! Es wird immer später! Komm, lass uns los, etwas zu Essen kaufen, und zieh endlich deine Schuhe bitte wieder an!“
„Ja, Mama.“

Kapitel – Ein Baum voller Äpfel

Die meisten Leute hier in diesem Ortsteil kannten Meryana. Solus war eine Metropole und wurde in beinahe hundert Stadtviertel und zwanzig Bezirke gegliedert. Das Viertel „Mondwacht“ war mit rund viertausend Einwohnern ein relativ kleines Stadtviertel. Es gab einen zentralen Marktplatz, der von einer Hauptstraße durchkreuzt wurde, die auch als Laden- und Tavernenstraße diente. Abends, sobald die Laternen angezündet wurden, kam der Verkehr schnell zum Erliegen, und die Straße füllte sich mit jenen, die nach Feierabend etwas Freude am Leben finden, oder noch schnell eine Schachtel Zigaretten, oder was man sonst so über Nacht gebrauchen konnte, kaufen wollten. Zahlreiche Läden schlossen auch erst gegen Mitternacht, öffneten dann aber am nächsten Tag erst wieder gegen Mittag. Und die Tavernen blieben meist bis zum Morgengrauen geöffnet. Zwei Wirtshäuser bedienten ihre Gäste auch rund um die Uhr. Eine Sperrstunde existierte nicht. Ein wahrer Segen für eine Nachteule, wie Meryana es war – bezogen auf Lebensmitteleinkäufe. Tavernen mochte sie nicht. Zu viele Leute, welche sie unaufgefordert ansprachen, und mit ihr über diverse … Dinge reden wollten, oder, laut Meryanas Auffassung, auch mit ihr machen wollten. Hin und wieder traten auch Männer an sie heran, welche in Kenntnis über ihr Dasein als Heilerin waren, mit der Bitte um eine andrologische Untersuchung. Einige bestanden sogar, nach erfolgter Behandlung, auf eine „Testung“, ob alles wieder funktionierte. Doch sie gab diesen Ansinnen stets eine Abfuhr. Die letzten Male hätte sie fast nachgegeben. Nicht, dass sie es wirklich von sich aus gewollt hätte. Es war vielmehr Mitleid, welcher sie dazu angestiftet hätte. Vielleicht würde nun Aurianas Anblick die Flausen aus diesen Männern heraustreiben. Eine Mutter mit Kind baggerte man ja wohl kaum an. Hoffte sie.
Es fühlte sich eigenartig für sie an – Hand in Hand mit ihrer Tochter auf der Straße zu schlendern. All die Blicke der Leute, welche nun auch in der Lage waren, Auriana wahrzunehmen. Meryana zog ihren Schal etwas höher, damit man ihr Gesicht schlechter sehen konnte. Sie mochte keine Blicke. Ihr war so etwas peinlich, und sie schämte sich. Doch hätte sie es besser wissen müssen: Die Bewohner hier hielten sehr viel von ihr – jeder einzelne. Sie war hier in die Herzen der Menschen gewachsen als empathische, mitfühlende und gutherzige Person. Und keiner würde es zulassen, dass man ihr etwas Böses antut. Aber diese Liebe empfand auch Meryana, nur konnte sie diese nie zeigen, weil sie sich dessen auch gar nicht bewusst war, dass sie für jeden Bewohner eine besondere Art der Zuneigung empfand. Die meisten Bewohner wussten auch, wie es um Meryanas Nervosität bestellt war, was sie aber, zu ihrem Leidwesen, oft dazu veranlasste, sie anzuquatschen – „man meinte es ja gut und wollte helfen“.
So wie bei diesem einen Mann: „Oh hallo, Meryana! Ich habe dich ja seit Tagen nicht gesehen. Wie geht es dir? Und vor allem, wer ist denn diese bezaubernde junge Dame?“
Meryana blieb ruckartig stehen und quiekte kurz in ihren Schal hinein. Es war die Stimme von Kaerzo Vacura, ein Mann irgendwo Mitte dreißig, der ihrer Meinung nach, nur auf der Straße herumlungerte und mit Leuten quatschte. Aber ein friedfertiger Mann, der ihr schon ein paar Mal die Einkäufe, charmant wie er war, getragen hatte. Was er beruflich machte, konnte sie nicht sagen. Einkaufstütenträger? Vielleicht lag es auch daran, dass sie immer um die gleiche Uhrzeit einkaufen ging. Oft fand sie in ihren Tüten auch eine Schnittblume, die sich auf unbekannte Weise dorthin verirrt hatte. Sie konnte ihn sich auch gut als Schnittblumenstraßenverkäufer vorstellen. Aber sie selbst hatte einfach kein Händchen dafür, Balzverhalten, wenn es nicht unverhohlen war, als solches zu erkennen, besonders wenn sie als Zielperson involviert war. Hätte ein Außenstehender eine Strichliste geführt, wie oft Meryana in den letzten Monaten angebändelt wurde, hätte er wohl nach einem vollen Blatt resigniert aufgegeben. Und Meryana selbst hätte keinen einzigen Strich gemacht. In ihren Augen war Kaerzo schon haarscharf an der Grenze, dass sie ihn als Schönling hätte bezeichnen können – mit kleinen Abstrichen. Vielleicht sogar ein Alphamännchen, auf seine Art und Weise. Er schien auch ziemlich beliebt zu sein, war sehr gepflegt, hatte wirklich eine tolle Frisur, ein hübsches Gesicht, eine melodische Stimme, konnte unterhaltsam und humorvoll sein, seine Kleidung war meist ein Blickfang und …. Sie rief sich mit einer mentalen Ohrfeige wieder zur Besinnung. Und seine Augen waren sehr markant. Meryana hielt aber, so gut wie möglich, nie mit ihm Blickkontakt. Da war auch etwas an ihm, was sie sehr unruhig werden ließ. Eine Nervosität, die sie nicht zuordnen konnte. Es mussten die Augen sein. Es sind immer die Augen. Augen, die vor allem nicht nur Meryanas Gesicht musterten, sondern auch andere Körperregionen, und es waren definitiv nicht ihre Füße. Sie hatte gehofft, während ihrer kleinen Shoppingtour nicht angequatscht zu werden, und stöhnte innerlich auf.
„Hallo Kaerzo, das ist …“
„Hi! Ich bin Auriana und das hier ist meine Mama. Uns geht es gut. Danke der Nachfrage! Wie geht es dir denn?“
„Oho! Und dazu auch noch eine zauberhafte Stimme. Du könntest glatt bei uns im Orchester die Gesangsstimme übernehmen. Mir geht es gut, Auriana. Danke auch! Ich wusste gar nicht, dass deine Mutter eine so hübsche Tochter hat. Hätte ich es nicht gerade erst erfahren, hätte ich gedacht, ihr wärt Geschwister oder gar Zwillinge.“
Meryana schaute mit einer hochgezogenen Augenbraue und einem schiefen Lächeln zur Seite. Sie wusste nicht, ob sie diese Randbemerkung als Kompliment nehmen sollte, dazu noch eines nach Schema F, oder ob es wieder ein Necken hinsichtlich ihrer Körpergröße war. Und überhaupt, und das fiel ihr jetzt erst auf, sollte sie es den Leuten sagen, dass Auriana ein Blütenheilerkind war? Sibéal hatte erwähnt, man soll Mäßigkeit an den Tag legen, die eigenen übernatürlichen Fähigkeiten preiszugeben, vor allem, wenn man Heiler ist, und, was viel gewichtiger war, wenn man mit dem Reich der Stille in Verbindung stand, wie es bei Blütenheilern der Fall war. Dieses Reich war unter der Bevölkerung mit großem Unheil verbunden; eine Einstellung die Meryana gewiss nicht vollständig teilte. Meryana wusste auch nicht, dass Blütenheiler bei der Bevölkerung hoch im Kurs standen, besonders jene Seltene des Satiracs. Wie auch – Sibéal war in ihrem goldenen Käfig, und sie selbst war wohl die einzige Blütenheilerin des Satiracs in Solus, welche frei auf den Straßen wandelte. Doch allein schon, wenn andere wussten, dass man ein Heiler war – man wird schnell belagert, und die Leute fangen dann an zu reden; so breitet sich diese Information wie ein Lauffeuer aus. Das konnte dazu führen, dass man spätestens nach ein paar Tagen anfangen konnte, für mindestens ein dutzend Sprechstundenhilfen Stellenausschreibungen anzufertigen. Tatsächlich wurde sie vielfach angesprochen für die ein oder andere Heilbehandlung. Zum Glück jedoch nur wegen kleinerer Wunden, Verstauchungen und … „Männerprobleme“. Scheinbar kannten die Leute nur magische Heilung im kleinen Rahmen. Hätten sie gewusst, was sie bereits geleistet hatte, wäre sie vermutlich öfters belagert worden. Für sie war das alles trotzdem ein wenig paradox, denn sie machte es ja auch gerne – wenn da nur dieser Aspekt und Fluch nicht wären. Keiner hier wusste, dass sie bereits eine ganze Kompanie, die schon so gut wie tot war, mit ihrer Heilung gerettet hatte. Was zugeben, mit diabolischen Schmerzen verbunden war – auf ihrer Seite, nicht die der Geheilten. Sibéal hatte ihr aber beigebracht, dass sie den Preis des stillen Reiches, ihren Aspekt des Schmerzes, durch Intimitäten schmälern konnte. Leichter gesagt als getan. Oder vielmehr, sie konnte einfach diese Intimitäten nicht ausführen. Da war zu viel Scham im Spiel. Mit jemand Wildfremden zu kuscheln und rumzuknutschten – da wählte sie lieber den Schmerz. Schmerzen waren kalkulierbar. Entweder man hatte sie, oder man hatte sie nicht – mal mehr, mal weniger. Bei der Scham wurde das Ganze zu kompliziert für sie. Bei ihren Gefährten machte sie da eine Ausnahme; natürlich nur bis zu einer gewissen Grenze. Aber im Allgemeinen: „Kuschelheilung“, nein, zu viel, ist zu viel. Vielleicht später irgendwann mal.
Meryana wusste zudem nicht, dass allein ihre Ansässigkeit in diesem Kleinviertel für eine bessere Gesundheit der Bewohner sorgte. Glücklicherweise hatte sich ihr „frivoler Spaziergang“ mit Sibéal vor wenigen Monaten nicht herumgesprochen. Allein die Erinnerung färbte ihr Gesicht rot.
Was sollte sie sagen? Diese Welt war in gewisser Weise sehr mystisch, was könne da das Wissen um ein Blütenheilerkind schon heraufbeschwören? Andererseits, wenn sie so das Alltagsleben betrachtete, war es durchaus identisch mit einer nicht-magischen Welt. Die Leute mussten vieles per Hand verrichten – kein Besen, der von alleine irgendwo den Schmutz wegfegte und auf übernatürliche Weise verschwinden ließ, keine Kleidung, die sich selbst wäscht und in die Kleiderschränke einsortierte. Ja, es existierte in gewisser Weise so etwas, aber das waren Einzelfälle. Sie hätte die Liste beliebig fortsetzen können. Die einzig magischen Dinge im Alltag, die so gut wieder jedermann nutzte, waren die Kommunikationssteine und die Beleuchtungen; Letztere aber auch nur in Maßen, der Rest wurde mit Öl oder Kerzenwachs zum Leuchten gebracht – einen elektromagischen Lampensockel suchte man hier vergebens. Aber auch Tiere, oder besser gesagt, Kreaturen, existierten, welche man durchaus in die Domäne der Magie einordnen konnte. Allein Hidrons Fähigkeit, sich in einen Werwolf zu verwandeln; oder Michiko als Anurika und Tenemora, die Talente hatte, welche auf Zeitmanipulation abzielten. Hier in der Stadt lebten die tonnenschweren und friedlichen Güselurche, die, unter dem Strich, einfach Müllwagen waren, den Abfall in seine Bestandteile zerlegten und von Müllkutschern geführt wurden. Und natürlich auch sie selbst als Blütenheilerin war ja magisch. Die ganze Sache mit dem Ewigwald, dem Infentiumgebirge und Ssurrussus hatte sie verdrängt. Aber das war ja nicht Alltag. Außerdem wussten die Leute ohnehin, dass ihre Heilung magisch war.
Also, was sollte sie sagen?
Sie entschied sich ungeachtet dessen für eine Flunkerei: „Ja, das ist meine Tochter. Sie war für einige Monate bei ihrem Vater.“ Es gab fast nichts, was sie, für sich selbst betreffend, mehr hasste, als zu lügen. „Mit jeder Lüge entfernen wir uns ein Stück von uns selbst“ – das war immer ihr Antilügenmantra gewesen, aber wenn sie jetzt preisgeben würde, was Auriana wirklich ist, würde das vermutlich für eine ganze Gesprächsnacht sorgen.
„Wie schön! Wie war es denn für dich, Auriana?“
Auriana schaute Meryana kurz an und wandte sich dann wieder Kaerzo zu. „Schön. Er musste aber auch viel arbeiten. Er erforscht nämlich die Monde.“
„Das war bestimmt auch superspannend für dich, richtig?“
Auriana nickte. Meryana schaute ein wenig überrascht, ob der doch sehr guten Lüge für ein Kind, und überlegte, welche Ammenmärchen sie ihr wohl gelegentlich aufgetischt hatte. Und als ob Auriana ihre Gedanken lesen konnte, trafen sich ihre Blicke, woraufhin ihre Tochter leicht den Kopf schüttelte mit einem Grinsen im Gesicht. Auriana konnte in der Tat die Gedanken ihrer Mutter wahrnehmen, was sich bislang aber eher auf Emotionen beschränkte.
Kaerzo schaute einen Moment in die Ferne und machte den Eindruck, als würde er eine Berechnung anstellen. Meryana zuckte zusammen: „Scheiße! Er erkennt doch mit Leichtigkeit, wie alt ich bin, und Auriana kann man mühelos auf zehn Jahre schätzen. Ich habe doch nicht mit acht Jahren ein Kind bekommen! Mist! Sie hätte ja auch einfach meine Cousine sein können … ah, ich habs …“
„Ach so, ihr Vater ist übrigens der leibliche Vater, ich bin aber die Ziehmutter, wenn man so will“, warf Meryana mit einem nervösen Lachen ein.
„Ich verstehe. Es hat mich schon ein wenig verwirrt. Ich hätte aber nicht gedacht, dass du mal ne Bonusmama wirst. Also hast du noch kein leibliches Kind?“
„Haha! … nein, habe ich nicht. Doch nicht in meinem Alter!“ Meryana entdeckte einen Apfel in ihren Manteltaschen – sie wusste auch nicht, woher diese Äpfel immer kamen – nahm ihn und biss herzhaft ein Stück davon ab, während sie ihren Gedanken nachging: „Bonusmama? Was ist denn das für ein Wort?“ Wenn man etwas in den Händen hielt zum Essen und auch davon Gebrauch machte, konnte man immer gut ablenken, besonders die eigenen Gedanken, oder sich einfach Zeit erkaufen; und, mit das Wichtigste, man kam nicht in Versuchung, Unsinn zu erzählen. Wenn man Glück hatte, sah der Gesprächspartner es nicht als Unhöflichkeit an. „So ists gut“, dachte sie, während sich Erleichterung in ihr breitmachte, „Und Auriana verhält sich auch vorbildli…“
„Willst du mit Mama ein Kind machen? Sie hat noch keinen Freund und ist auch noch Jungfrau.“
Meryana schnappte nach Luft; ein Apfelstück hatte sich plötzlich in ihrem Rachen festgesetzt.
Kaerzo lachte, stand dann aber direkt auf, um Meryana auf den Rücken zu klopfen – und ließ seine Hand nach wenigen Stupsern dort liegen. Zu lange für Meryanas Geschmack. Ihr war klar, was er vorhatte. Ein Annäherungsversuch. Panik keimte in ihr auf. Alarmstufe gelb!
„Oh. Ich hoffe, ich habe nicht zu fest gestoßen.“ Jetzt rieb er die besagte Stelle ganz sanft.
Meryana verzog entgeistert ihr Gesicht und stöhnte auf – unbeabsichtigterweise laut. Etwas Unbekanntes in ihr kribbelte. Sie schob aber dieses Kribbeln beiseite. So ein Kribbeln wollte sie jetzt nicht haben.
„Anscheinend doch. Tut mir leid!“
„Ach, was, nein, ja, ist ok, danke für die Hilfe!“, sie hielt ihre Arme verschränkt, damit man ihr Zittern nicht bemerken würde, „Außerdem, ich hab kein Problem damit, wenn ich mal fest gestoßen werde. Haha!“
„Hmm. Interessant. Machst du denn da Unterschiede, wer dich fest stoßen darf, und wer nicht?“
Das Zittern wurde durch eine Schockstarre ersetzt. Nach dieser ungewollten Aussage hätte sie sich am liebsten hinter einem ganzen Baum voller Äpfel versteckt.
Mit so einem auf intimer Tuchfühlung gehenden Verhalten hatte sie nicht gerechnet.
Sie bemerkte neben sich ein schmatzendes Geräusch. Es war Auriana, die an einer Apfelspalte geräuschvoll lutschte, während sie in ihren Händen ein Buttermesser und einen halben Apfel hielt. Als sie den Blick ihrer Mutter sah, hielt sie inne.
„Auriana!“, pfiff Meryana durch ihre zusammengebissenen Zähne, „Hört auf, an dem Ding so … rumzunuckeln!“
„Wiefo?“
„Schluck einfach! … Nein, ich meine, beiß und dann iss das Ding!“
Auriana kicherte, „Du bist witzig, Mama!“
Kaerzo, der immer noch hinter ihr stand und sie mit einer Hand berührte, flüsterte in ihr Ohr: „Schluckst du auch gerne … Apfelspalten?“
Mit dem letzten Satz wurde das Quecksilber der Panik gesprengt und sie aktivierte reflexartig eine ihrer Auren, und zwar jene, die ihre Feinde besänftigen sollte, damit diese ihr Ziel, welches dann Meryana gewesen wäre, nicht angriffen. Zu ihrem Verdruss hatte nun diese Aura, sollte sie in einer Situation wie die Aktuelle eingesetzt werden, nicht die Wirkung, die sie sich erhofft hatte. Der Mann war weder Feind noch hatte er vorgehabt, sie anzugreifen oder ihr wehzutun. Er wurde nun besänftigt mit der Emotion der Liebe. Generell wirkte diese Aura aber nicht so wie ein Liebestrank; Personen, die Meryana nicht mochten oder gar hassten, würden ihr nun per se auch keine Blumensträuße angedeihen lassen. Die Aura verstärkte aber die Zuneigung und ließ auch alle Hüllen der Scham und der Angst vor einer zwischenmenschlichen Ablehnung fallen, sofern die Person nicht weiter als ein paar Schritte von Meryana entfernt stand. Im Konkreten bedeutete das: Niemand hätte vor einem Meryana-Korb Angst gehabt. Fast so wie ein Alkoholrausch, nur ohne Alkohol, Schwindel, Magenentleerung und Kater.
„Oh nein, oh nein! Gar nicht gut!“ Sibéal hatte sie auch gewarnt, diese Aura nicht jählings zu deaktivieren – das würde seelische Schäden, wenn auch nur leichte und vorübergehende, an den Betroffenen verursachen. Sie ließ sie also aktiv.
Für Kaerzo war Meryana nun das liebste und bezauberndste Wesen auf der ganzen weiten Welt – wenn es das nicht ohnehin schon war. Er umarmte sie von hinten mit den Worten: „Weißt du Meryana, ich habe dich so gern, ich könnte mir vorstellen, für immer mit dir zusammen zu sein. Seit ich dich zum ersten Mal gesehen hatte. Es ist so schön, deine Nähe zu spüren. Bitte bleib immer bei mir!“
Auriana unterhielt sich derweil mit einem Boten, und fütterte dessen Pferd mit dem halben Apfel, den ihre Mutter fallen gelassen hatte.
„Mama? Darf ich eine Stadttour mit Poputz machen?“
„Äh, was?“, Meryana schob Kaerzos Hand von ihrem Mund weg, „Um diese Uhrzeit noch? Und außerdem, du sollst nicht wildfremden Pferden irgendwelche dämlich klingende Namen geben!“
„Das ist mein Name, verehrte Dame“, bemerkte der Bote mit dem Namen Poputz.
Meryana schrie innerlich, und Kaerzo hielt sie immer noch umklammert, als hätten sich beide gerade eben das Ja-Wort gegeben. Einige Passanten schauten neugierig zu dem vereinten Zweierteam hinüber. Meryana konnte dank ihres übernatürlichen Gehörsinnes aufschnappen, wie und was sie tuschelten. Manche Kommentare zielten auf den Unterschied ihrer Körpergröße und der von Kaerzo, und libidinösen Intimitäten ab. Es war ihr so peinlich.
„Entschuldigung! Und, ja, ja, von mir aus. Aber was soll …“, Kaerzo zwickte ihr in den Po, „… aber was soll ich mir unter … einer … unter einer Stadttour vorstellen?“
„Meine Schicht hat gerade angefangen, und ich muss einige Briefe entlang der Nord- und Westmauer ausstellen, dann geht es geradewegs in die Innenstadt. Von da aus bringe ich ihre Tochter wieder zurück nach Hause. Dauer wäre etwa bis Sonnenaufgang.“
Meryana wusste nicht, ob es ratsam war, ein Kind mit einer fremden Person loszuschicken. Aber wirklich fremd war dieser Mann auch nicht. Er arbeitete für die Ministerien. Außerdem wusste sich Auriana eh zu verteidigen. Sie erinnerte sich an den Vorfall im Infentiumgebirge, als Auriana in den Psychohorrorangriffsmodus verfiel, und ihre Härchen stellten sich bei diesem Gedanken erneut auf. Wahrscheinlich war Auriana aktuell sogar eher Poputzs Leibwächterin. Und das Tag-Nacht-Verhältnis hier in dieser Welt war ein wenig anders. Manchmal war es wegen der Monde nachts fast genauso hell wie am Tage.
„Meinetwegen, ja. Aber wenn sie Schwierigkeiten macht, bringt sie sofort zurück!“
„Natürlich. Also dann, Auriana, steigt auf!“
„Bis später Mama! Poputz und ich essen unterwegs. Wir essen ein anderes mal zusammen. Viel Spaß mit deinem Freund!“, die letzten beiden Worte betonte sie extra stark.
„Ja … ok. Bis später!“
Beide ritten los, und Meryana rief ein paar Sekunden später hinterher: „Auriana! Klopf bitte zuerst an, wenn du zurück bist!“
Auriana gab mit einer Handgeste zu verstehen, dass sie es gehört hatte.
„Was? Warum habe ich das gesagt?“, dachte Meryana und starrte ein wenig fassungslos in die Ferne, „… diese Auriana! Sie hat seinetwegen und mir das Feld geräumt“, sie erinnerte sich zurück, dass nicht sie, sondern ihre Tochter hier auf der Straße irgendwann die Führung übernommen, und auf Kaerzo zugesteuert hatte, „So ein ausgebufftes Mädchen …“
Kaerzo streichelte ihr Gesicht. „Ich finde dich so niedlich, meine Kleine, und …“ Meryana hörte die Worte, als kämen sie aus weiter Ferne, und schaute in den Himmel. Satirac schien heute besonders schön, und sein Licht fing an, ihr gesamtes Gesichtsfeld auszufüllen.

Kapitel – Kaerzo und Meryana

„Mist! Mist! Mist! Was soll ich jetzt tun? Und überhaupt … Hä?! Wie bin ich jetzt in meiner Wohnung gelandet? Ich habe doch gerade eben noch Auriana verabschiedet  …“ Meryana sah an sich hinab. Sah, wie ein paar Finger die Bänder ihres Kleides lösten. Finger, die zu einer Männerhand gehörten. Warmer Atem berührte ihr Ohr und ihren Nacken. Ein Schaudern durchfuhr sie. Der Mann fing an, sie von hinten zu küssen, und wanderte mit seinen Lippen ihren Hals und ihre Schulter entlang. Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, fiel ihr Kleid zu Boden. Sie stand nur noch in Unterwäsche da. Seine Hände wanderten zu ihren Seiten auf Brusthöhe. Sie zuckte leicht zusammen, als er ihr Bustier zu beiden Seiten griff – es kitzelte – und dann langsam nach oben zog. Sie fühlte, dass sie mitmachen sollte, aber wollte sie auch? Ihr Herz schlug so laut, dass sie sich kaum konzentrieren konnte. Dies war nicht der Augenblick, um Verklemmtheit zu zeigen, fühlte und entschied sie und hob anschließend beide Arme. Das Bustier glitt nach oben. Der Mann schien groß zu sein.
„Wer ist dieser Mann?“, überlegte sie und erinnerte sich vage daran, dass sie vor nicht allzu langer Zeit von jemandem umarmt wurde, ja sogar diese Wärme jetzt noch spürte. Es fühlte sich an, als ob es gerade eben passiert war, und gleichzeitig, als ob es schon monatelang her war. 
Ein Gedanke formte sich: „Oh nein! Meine Aura!“ Sie ging eine Zeit lang in sich, während die Finger des Mannes sich langsam Richtung ihrer Brust vortasteten. „Aber, aber, …? Ich habe keine aktiv!!! Wieso ist er immer noch so auf mich …?“ Sie zuckte abermals zusammen, als seine Finger fündig wurden und begannen, leicht etwas an ihr zusammenzudrücken. Noch nie hatte ein Mann sie dort berührt. Ihr Atem ging schwerer, und sie spürte seinen mit jedem Hauch auf ihren Nacken und ihrer Schulter.
Meryana wollte sich umdrehen; wollte sicherstellen, dass es derjenige ist, von dem sie sich unbewusst erhofft hatte, er würde es sein. Aber sie konnte nicht. Sie konnte auch keine Worte hervorbringen. Die Zunge des Mannes wanderte ihren Nacken und Rücken herab, bis sie schließlich am letzten Stück Stoff anhielt, welches sie noch an ihrem Körper trug. Und wieder griffen seine Finger links und rechts zu ihren Seiten. Sie spürte, wie der Stoff langsam an ihren Beinen hinunterglitt. Ihre Gedanken überschlugen sich: „Was passiert gleich? Was wird er genau mit mir vorhaben?“ Obwohl dies sehr offensichtlich war, malte sie sich dutzende Szenen aus. Szenen, die ihr noch vor einigen Monaten zuwider waren, besonders, weil immer der andere Hauptakteur die Männerrolle einnahm, die, ihrer Meinung nach, ja eigentlich sie bekleiden sollte. Ihr waren im Prinzip die Geschlechter egal – aber zwischen Frau und Mann gab es, zugegeben, schon einige körperliche Unterschiede, so auch in ihrem Zusammenspiel. Diese Tatsache und jene, dass sie in dieser Welt ist, was sie ist, stellten ihre gesamte Omnisexualität auf den Kopf und in eine Feuerprobe. Monatelang hatte sie es gemeistert, jegliche Annäherungsversuche diverser Werber abzublocken. Doch dieser hier hatte es geschafft. „Wieso er?“, fragte sie sich entgeistert. Und jetzt wusste sie auch, wer es sein könnte, nein, es sein musste: Es war Kaerzo.
In ihr brodelte der Satirac und ließ schrankenlos seine Macht wirken, über eine Verbindung, ohne jegliche Widerstände und Verunreinigungen. Es war wie pures Gold. Nein, wie pures Infentium. Der Mond der Liebe war jetzt mit ihr eins geworden. Sie spürte Kaerzos Seele, genau wie sie Aurianas Präsenz immer gespürt hatte – unvorstellbar rein, so wie jede Seele. Nach und nach driftete Meryanas Geist ab, und das Gebilde dieser Seele wurde für sie erkennbar. Sie wusste nicht, ob sie dieses mit ihrem Augenlicht erblickte, oder ob da etwas anderes war, was ihr diese wundersame Empfindung zuteilwerden ließ. Es war wie in einem Traum, dessen Inhalte greifbar wurden. Diese Wahrnehmung hatte sie auch, wenn sie jemanden heilte; nur in einer sehr abgeschwächten Form. Doch so eidetisch wie jetzt war es für sie noch nie. Und hier, sie, diese eine Seele, schimmernd in allen Farben, selbst jene, die für das menschliche Auge nicht bestimmt waren, in ihrem ungetrübten Glanz, war nun deutlich zu sehen. Ohne schmutzige Schale, die ein Urteil über den Charakter rechtfertigen konnte. Ein Kern, der weder Gut noch Böse kannte. Weder richtig noch falsch. Myriaden über Myriaden szintillierende Fäden, die sich in der Unendlichkeit, einem Sternenmeer zu allen Seiten ihrer Wahrnehmung, verloren, waren mit dem Kern dieser Seele verbunden. Sie wusste nicht, welche Bedeutung diesen Fäden beigemessen werden konnte, doch sie vermutete eine Verbindung zu anderen Seelen oder gar anderen Dingen, die außerhalb jeglicher irdischen Beschreibungen existierten. Meryana konnte nicht ahnen, dass sie mit dieser Einschätzung schon die halbe Wahrheit entdeckt hatte. Die andere Hälfte würden ihr und ihren Gefährten vermutlich erst am Ende ihrer langen Reise zuteilwerden.
In ihr keimten nun die Macht und die Entschlossenheit auf, jeder Seele habhaft zu werden; allen voran, Kaerzos Seele. Sie griff danach, berührte sie leicht, und dann überkam sie ein Offenbarungserlebnis, welches alle Blütenheiler ab einem gewissen Punkt in ihrer Lebensgeschichte zu spüren bekamen, und vielmehr eine Grundwahrheit ist, doch allseits aus deren Bewusstsein stets verbannt wurde: Keine Seele ist ohne Leid. Vor allem für jene des Satiracs ist diese Erkenntnis zutiefst schmerzhaft. Jegliches Leid, jegliche Qualen, auch die Verdrängten, wurden für sie nicht nur sichtbar, sondern auch spürbar; gleichermaßen der Groll, die Ängste, Freude, Neugierde, Trauer, sämtliche Emotionen, die dieser Seele Leben und Empfindung einhauchten. Dies war die höchste Stufe des Mitgefühls und der Empathie: das transzendente Einfühlungsvermögen der Blütenheiler des Satiracs. Eine „Drangsal der Seligkeit des Daseins“, so hatte Sibéal dieses Zartgefühl der Wahrnehmung bezeichnet. Sie konnte so stark am Geist zehren, dass man Gefahr lief, in den Wahnsinn zu verfallen. Es ist das, was die Seele in den Bildern dieser Welt zum Zerrinnen bringt. Ihr zu trotzen erforderte nicht nur eine übernatürlich hohe Willensstärke, sondern auch die Mentalität, jegliches Leben als gleichwertig zu betrachten – nicht zu unterscheiden zwischen Familie, Freunde, Nachbarn, Fremden oder gar Feinden. Zwei Wesenszüge, die vereint nur wenige mit aufwarten können. 
Meryana aktivierte ihre Heilerfähigkeiten, um eine Wunde zu versorgen. Als sie diese berührte, wurde ihr auch schlagartig die Ursache gewahr. Eine Welle der Traurigkeit und der Angst überkam sie – eine Verzweiflung, ein Schicksalsschlag in Kaerzos Leben. Meryana kämpfte gegen die Tränen an. Jetzt war nicht der Augenblick der Trauer. Doch jegliche Anstrengungen, dieses Mitgefühl zu kontrollieren, schlugen fehl. Kein Blütenheiler, der lebte und gelebt hatte, hätte diesem ausweichen können. Sie nahm wahr, wie eine Welle entlang der Fäden ihren Weg antrat, und sie spürte, wie diese im Reich der Stille, in ihrem Hain, aufwallte, nur um im nächsten Moment, gereinigt wieder ihre Heimfahrt anzutreten. Sie hörte aus der Ferne Aurianas Stimme, vertieft in einem Gesang voller Freude und Vertrauen, doch sie verstand die Sprache nicht. Das wiederholte sich mehrmals, und dauerte eine gefühlte Ewigkeit, dann war die Wunde zwar nicht verschlossen, aber gesäubert. Jetzt lag es an Kaerzo, diese irgendwann endgültig zu verschließen – es würde ihm nun wesentlich leichter fallen. Dies war einer der Momente, welcher Meryana ein Hochgefühl bereiteten, doch es währte normalerweise nicht lange, denn das Reich der Stille hatte immer seinen Tribut gefordert. Sie zuckte zusammen, wartend darauf, den Preis der Schmerzen zahlen zu müssen.
Es kam nichts. Das Reich der Stille hatte ihr diese Heilung geschenkt. Und vom Reich der Stille beschenkt zu werden, war wie ein weißer Rabe unter einer Schar schwarzer Vögel. In ihrem Fall wohl eher eine weiße Blüte. „War es das, was Sibéal meinte? Wie soll ich das bloß bei jeder Person schaffen?“ Was Meryana indes nicht wusste, all ihre Tränen und ihre Trauer blieben in dieser wundersamen Zwischenwelt. Kaerzo konnte noch nicht ahnen, was sie für ihn getan hatte. Und all die kontemplative Philosophiererei wurde mit einem Schlag in ihre Schranken verwiesen, als das Hier und Jetzt sie mit einer Stimme einholte: 
„Du bist wunderschön, Meryana. Dein Gesicht, dein Körper, einfach alles an dir“, er fasste ihre Oberschenkel und spreizte ihre Beine leicht, „Einfach alles!“
Meryanas Gedanken rasten und waren immer noch benebelt vom Anblick der Seele – die Drangsal der Seligkeit des Daseins. Dies war der eine Moment, den sie schon seit ihrer Ankunft in Iranthi befürchtet hatte. Doch war der Argwohn gerechtfertigt? Und jetzt war dieser Moment da. Gewiss, sie konnte abbrechen. Konnte einfach aufstehen, sich anziehen, und den Gast bitten zu gehen. Aber welchen Sinn hatte dann das alles? Sie sollte sich zusammenreißen, ermahnte sie sich, immerhin war es die schönste Sache der Welt. So erzählte man. Sibéal hatte es ihr ja auch „erlaubt“, in gewisser Hinsicht schon eher nahegelegt. Und dann dieser scheinbar ewige Kampf mit sich selbst, jemanden an sich heranzulassen und Vertrauen zu schenken – was hätte sie denn überhaupt zu verlieren? Sibéal hatte dies auch nur bei ihr geschafft, weil sie selbst eine erfahrene Blütenheilerin des Satiracs war. Aber nicht jeder war wie Sibéal. Meryana war kein Mensch, der gerne alleine war, noch war sie jemand, der bereitwillig unter vielen Leuten verweilte. Ihre Freunde und Auriana trugen sicherlich dazu bei, dass sie sich nicht einsam fühlte, doch das hier war etwas vollkommen anderes. Sie brauchte einen Menschen, dem sie restlos vertrauen konnte – nicht nur in Worte und Taten, sondern auch in ihrem Seelenheil. Und dann waren da noch die Zweifel, ob es nicht die alte Meryana war, die sich die ganze Zeit „zu Gefühl“ meldete und nicht ihr Heimat-Ich – der Dirk. Wenn Letzteres das hier alles forcierte, war es dann nicht so etwas wie eine Seelenpeinigung gegenüber alten Meryana? Zwei gespaltene Bewusstseine wieder vereint. Gelegentlich war es schwer zu erkennen, wer was wollte. Aber war das überhaupt wichtig? Sie überlegte und verneinte letztendlich diese Frage für sich. Beide sind nun eins. Beide sind nun Meryana.
Kaerzo hatte sie mittlerweile auf das Bett gelegt, beugte sich nach vorne und küsste sie, während er sich zwischen ihren Beinen positionierte. Sie streckte ihre Hände aus und legte sie auf seine Schulter und seinen Kopf. Meryana hoffte, dass er ihr Zittern nicht bemerken würde. Und wenn schon; es war ihr dann auch egal.
„Wie fühlst du dich?“, fragte er leise und schaute sie mit einem Lächeln an.
Sie lächelte zurück, „Gut“, und schloss ihre Augen.
Er zögerte einen Moment und wirkte nachdenklich, so als würde er seine Worte sorgfältig abwägen: „Bist du … ich meine … hattest du schon mal …“
„Nein, ich hatte nie.“
„Jedenfalls nicht mit einem Mann“, wollte sie noch hinzufügen, entschied sich aber dagegen. Der Sex mit Sibéal war auch schön, doch er war anders. Mehr ein Ritual, als eine Vereinigung.
„Oh.“
„Alles gut.“
Er lächelte wieder und setzte dort an, wo er aufgehört hatte. Ihr ganzer Körper kribbelte und schien sich immer weiter aufzuheizen. Sie wusste, was in wenigen Sekunden passieren würde. Da war auch dieses Gefühl der Angst, welches in ihr aufkeimte. Sie versuchte hastig, es zu ersticken, doch es klappte nicht. Auch die mentalen Griffe nach ihren Magiefähigkeiten, mit deren Hilfe sie Emotionen dämpfen konnte, blieben ihr versagt. Es war, als sperrte Satirac diese absichtlich, damit sie auf sich alleine gestellt war. Stattdessen fing sie mit der Gedankenübung, wie man Ängste unterdrückte, an. Doch noch bevor sie überhaupt ansetzen konnte, durchströmte sie ein gänzlich anderes Gefühl und schob die Angst beiseite: Freude und Vertrauen – Liebe. Sie stöhnte auf. Kaerzo tat es ihr gleich und fing an, sich rhythmisch zu bewegen. Keiner von beiden bemerkte, wie Meryanas Blütentattoo hell aufleuchtete, und selbst der Fluch von Satiracs Tränen schien für diesen Augenblick ausgesetzt. Jetzt war es ihr auch egal, was sie von all dem halten sollte. Es war, wie es war. Und es war schön.

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